Kunst gegen das Unsagbare: "Wahrheit entsteht dort, wo wir den Mut haben, unsere Wunden zu zeigen.“

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Kunst gegen das Unsagbare: "Wahrheit entsteht dort, wo wir den Mut haben, unsere Wunden zu zeigen.“

Kunst gegen das Unsagbare: "Wahrheit entsteht dort, wo wir den Mut haben, unsere Wunden zu zeigen.“

Täglich werden Frauen Opfer von Misshandlung und Missbrauch seelischer und körperlicher Art. Und täglich versuchen Frauen, ihren Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Genau dort setzt das Projekt "unfassbar" von Künstlerin Julia Krahn an. Sie begegnet den Frauen in einem geschützten Umfeld, um sie aktiv in den Entstehungsprozess ihrer Porträts einzubeziehen. Vor Ort wurde eine psychologische Unterstützung von der Fachberatungsstelle Violetta e.V. angeboten. Das Projekt entstand aus der aktuellen Ausstellung "FrauenBilder. Julia Krahn im Dialog", die noch bis zum 17. August 2025 in den Räumen des Landesmuseums Hannover zu sehen ist. BRIGITTE hat mit Julia Krahn über ihre Kunst und die Arbeit mit den Betroffenen gesprochen.

BRIGITTE: Ihr Projekt "unfassbar" widmet sich sehr direkt und einfühlsam Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Für viele Frauen ist das Thema von großer, oft schmerzlicher Bedeutung. Wie nähern Sie sich solch persönlichen Geschichten?

Julia Krahn: Ich höre zu. Als Erstes höre ich einfach nur zu. Ich antworte auf Fragen, erzähle von meiner Arbeit oder auch, wenn gewünscht, von mir. Es startet ein Dialog. Danach beginnt der kreative Prozess, den ich erläutere und bei dem wir Ideen austauschen und besprechen, abwinken oder vertiefen. Ja, und dann versetze ich mich ganz in sie hinein und mache Probebilder. Ich bin zwar ganz in meiner Kunst, lasse mich aber immer wieder von den Frauen leiten. Welche Körperteile sind wichtig zu zeigen oder zu bedecken? Welche Objekte sind tief verbunden und sollen dabei sein? Wohin geht der Blick, was kann ich mit meinen Händen ausdrücken? Jede Geste ist gemeinsam durchdacht.

Wie schaffen Sie ein geschütztes Umfeld für die porträtierten Frauen?

Vor allem mit Aufmerksamkeit. Sich gesehen zu fühlen ist Voraussetzung, um Vertrauen aufzubauen. Da ist einerseits das Zuhören, andererseits auch die Bereitschaft, alles so zu gestalten, wie es sich für die Frauen gut anfühlt. Es braucht außerdem einen intimen Raum – normalerweise mein Studio, in diesem Fall war es das ruhige, abgelegene Fotostudio im Landesmuseum selbst. Dort hatten wir alles vorbereitet. Von den Hausschuhen und der hautfarbenen Unterwäsche bis hin zum Catering. Ich bin außerdem immer bereit zu helfen, ob das beim Suchen oder Realisieren von Props oder Symbolen ist.

Wie zum Beispiel?

Ich bat die Frauen, ein Objekt zu nennen, das mit der Tat, dem Täter oder auch dem Wiederaufleben zu tun hat. Das mag seltsam klingen, aber es kann etwas sehr Intimes und Starkes haben, weil man über dieses Objekt Kontrolle hat. Durch das Reden über Dinge wird die Tat objektiviert, was das Reden darüber erleichtert, und man kann selber endlich zum Subjekt werden und hat Raum, über sich zu sprechen. Symbole sind wichtig, weil sie Gefühle und Erfahrungen verkörpern.

Eine Porträtierte hat ein Kuscheltier in Form eines Fuchses als Symbol gewählt. Dieser Fuchs, der hat mit ihr die Kindheit über gelitten, und den hat sie nie zerstört. Warum hat sie den nie zerstört? Ein Objekt oder Symbol zu schaffen, ermöglicht es der Betroffenen, die Herrin der Situation zu werden und selbst zu entscheiden, wann sie sich damit auseinandersetzt, im Gegensatz zum Trauma, das allgegenwärtig ist. Sie kann diesen Fuchs rausholen, wenn sie möchte. Die Missbrauchserfahrung kann sie nicht einfach ausblenden. Die ist allgegenwärtig und unfassbar für viele Leute, aber für einen selber ist sie eigentlich am Körper. Man bekommt sie nicht weg aus dem Körper und dem Geist. Sie kann also jetzt mit dem Objekt arbeiten und sagen, jetzt gucke ich mir den Fuchs an und jetzt tue ich ihn wieder weg. Ganz kontrolliert und selbstbestimmt.

Welche Rolle spielt die aktive Einbeziehung der Frauen in den Entstehungsprozess und das Angebot psychologischer Unterstützung vor Ort durch Partner wie Violetta e.V.?

Ich habe keine Erfahrung, wie es ohne die aktive Einbeziehung der Portraitierten sein würde, denn sie ist seit jeher Bestandteil meiner Portraits. Vielleicht, weil es auch für mich Voraussetzung ist, die Frauen besser kennenzulernen, bevor ich in eine solch intime Situation trete. Die Kooperation von Partnern wie der Violetta e.V. war wie ein Rettungsring. Die psychologische Unterstützung wurde nicht von allen Frauen gewünscht, manche wollten auch einfach mit mir alleine sein. Bei anderen war es gut, dass wir wussten, da ist Beratung, die fängt uns zur Not auf und weiß, was sie tut.

Wie kann Kunst – und speziell Ihre Art der Porträtfotografie, bei der die Bilder tiefgreifende Erfahrungen zeigen – Frauen auf ihrem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben unterstützen und vielleicht sogar zur Heilung beitragen?

In jeder Wunde, die Frauen tragen, liegt nicht nur Schmerz, sondern auch die Kraft, sich neu zu entwerfen. Sich ein Bild zu machen von sich selbst, nicht ein Selfie, sondern ein Porträt, heißt, Erfahrungen ins Licht zu rücken und greifbar zu machen. “unfassbar” ist deswegen der Titel dieser Serie.

Wie schaffen Sie es mit ihrer Kunst, das Unsichtbare sichtbar zu machen?

Wahrheit entsteht dort, wo wir den Mut haben, unsere Wunden zu zeigen. Es sind die Empathie, die extreme Konzentration und Authentizität, die meine Arbeit auszeichnen und eine Brücke zum Betrachtenden schlagen. Die Bildende Kunst kann, wie Musik, Gefühle hervorrufen, loslösen. Das Medium wird zu einer gefühlten Erfahrung, und da kann auch Unsichtbares plötzlich ganz präsent sein. Ich würde es so formulieren: Meine Kunst macht nicht das Unsichtbare sichtbar – sondern das Unsichtbare spürbar.

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Was wünschen Sie sich für das Projekt "unfassbar"?

Ich möchte das Projekt ja wirklich groß machen. Ich möchte, parallel dazu, ein soziales Programm aufbauen. Eine Art Netzwerk der Beteiligten und Betroffenen. Wer möchte, kann mitmachen und helfen, dass es noch stärker wird. Eigentlich fängt das Projekt jetzt erst richtig an.

Mehr über die Künstlerin Julia Krahn, die seit 2001 in Mailand lebt und in Aachen aufwuchs, erfahrt ihr hier.

sul Brigitte

brigitte

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